Webster
Leseprobe aus dem Romanprojekt. So oder so ähnlich könnte der Roman vielleicht anfangen.
Die Welt ist vielleicht alles, was der Fall ist. Und zugleich vielleicht auch alles, was nicht der Fall ist, oder vielleicht das meiste davon. Alles, was als Möglichkeit existiert, als Idee, als Theorie, als Berechnung, als Traum, als Erinnerung, als Gefühl. Vielleicht ist die Welt alles, was wir denken, gedacht haben und denken werden, wenn wir wissen, dass wir es denken. Vielleicht aber auch die Gedanken, von denen wir nicht wissen, dass wir sie denken. Vielleicht sind Träume, wenn wir sie vergessen haben, immer noch in uns zu Hause. Wünsche, die uns wichtig waren, und Gebete, deren Wirksamkeit für uns außer Frage stand, und Flüche, die wir jetzt bereuen, und all die Pläne, die nicht aufgegangen sind, die Götter, denen wir vertrauten, sie alle sind vielleicht auch heute noch in uns zu Hause und sind ein unbekannter Teil von uns, der aber vielleicht als Sachverhalt besteht, und deshalb Welt ist, solange wir selbst als Sachverhalt bestehen.
Vielleicht lebte im dritten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends unserer Zeitrechnung in einer mäßig wichtigen deutschen Großstadt ein Mensch, dessen Glorie von seiner Mittelmäßigkeit herrührte. Weder hatte er eine Stellung in der Gesellschaft inne, die ihn irgendwie ausgezeichnet hätte, noch machte er etwas Besonderes aus seinen Talenten, noch sah er irgendwie besonders aus. Mittelmäßigkeit war sein Markenzeichen. Er verdiente seinen Lebensunterhalt als Verkäufer, wohnte zur Miete, fuhr mit öffentlichen Verkehrsmitteln, war gesetzlich krankenversichert, hatte Rücklagen in Höhe von einigen tausend Euro, vielleicht auch weniger. Wenn er nicht arbeitete, Musik hörte, alleine durch die Stadt schlenderte, las, oder in einem Café saß, oder sich mit einem Freund traf, fuhr er raus zu seiner Liebsten, trank mit ihr und plauderte, und dann schliefen sie zusammen, oder auch nicht. Und das schien ihm zu genügen. Mehr als das gab es in seinem Leben nicht, und es dürstete ihn auch nicht nach mehr. Und damit ist die ganze Handlung dieses Buches im Wesentlichen bereits erzählt. Nichts Besonderes wird in diesem Buch passieren.
Die Stadt, in der er lebte, war möglicherweise schön, obwohl einige sagten, sie gefalle einem vielleicht am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansah. Vielleicht hatte die Stadt eine halbe Million Einwohner, vielleicht fast eine ganze. Sicherlich war sie eine Großstadt, vielleicht seit dem vorigen Jahrhundert, vielleicht schon länger. Man darf sie sich vorstellen als einen Ort, der seit dem Mittelalter fortwährend Standort von irgendwas gewesen ist, Regierungssitz auf Landesebene vielleicht, ganz sicher aber auf Kreisebene, Residenz eines mehr oder weniger edlen Adligen, Sitz eines korrupten Bischofs, Dependance mehrerer börsennotierter Konzerne, von denen einige multinational tätig waren, Herberge der Verwaltungs- und Schulungszentren von marktbeherrschenden Versicherungen, Standort von einigen Filialen der größten Wirtschaftsprüfer-Kanzleien sowie mehrerer Unternehmensberater und Anwaltskanzleien mit unterschiedlich zweifelhaftem Ruf, Hauptquartier mindestens einer NGO, die im linksalternativen Spektrum hohes Ansehen genoss, Amts- und Verwaltungssitz mehrerer gemeinnütziger Stiftungen, von denen eine nach einem Schriftsteller, eine andere nach einer Zeitschrift und eine weitere nach einem Ehepaar benannt war. Wer es in New York nicht schaffte, und auch in Tokyo nicht, der wurde vielleicht hier groß, reich, mächtig und richtig wichtig.
Es war vielleicht einmal eine Künstlerin, die lebte und arbeitete im dritten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends unserer Zeitrechnung irgendwo in unserem Lande, in einer umgebauten Garage auf einem unbebauten Grundstück am Rande einer großen Stadt. Und wenn sie nicht gerade Bankgeschäfte machte, Lebensmittel oder Malutensilien einkaufte, den Müll raustrug oder ihre Unterkleider zum Trocknen aufhängte, dann malte sie vielleicht, oder sprühte Farbe auf ein Denkmal, oder klebte Warnungen an ein öffentliches Bücherregal, oder wachte mahnend vor dem Gebäude einer Tierversuchsanstalt, oder verschraubte Euro-Paletten, oder verteilte, als Waschbär verkleidet, Flugblätter vor dem Zoo, oder zeichnete. Ihr Medium war die Welt, sie war nicht beschränkt auf Leinwand oder Holz oder Keramik, sie nannte sich selbst nicht Künstlerin, sondern Welt-Resonatorin. Oder wenn sie nicht gerade auf ihre spezielle Weise mit der Welt resonierte, dann empfing sie möglicherweise Herrenbesuch, mit dem sie plauderte und trank, und sich vielleicht auch gerne in den Laken oder auf dem Teppich vergnügte, oder auf der Wiese, wenn das Wetter und die Laune das hergaben.
Vielleicht hatte der Sozialismus verloren. Viele glaubten das, nicht erst seit gestern, sondern seit einigen Jahrzehnten, nachdem die sozialistischen Sowjetrepubliken keine Union mehr bildeten und das sozialistische Deutschland vom kapitalistischen Teil gefressen worden war. Das sahen viele als eindeutige Beweise für die Überlegenheit des Kapitalismus. Vielleicht war der Kampf der Klassen endgültig entschieden, wenn auch gelegentlich die Lokführer oder die im Öffentlichen Dienst angestellten medienwirksam rumorten. Falls der Kampf der Klassen entschieden war, so hatte das Proletariat ihn sicher nicht gewonnen. Vielleicht hatte das Kapital gesiegt, vielleicht pausierten zur Zeit beide Seiten, einige schienen die augenblickliche Ruhe so zu deuten. Webster glaubte, das Proletariat, zu dem er selbst sich zählte, war durch einigen Wohlstand hinreichend korrumpiert, so dass es nicht mehr aufbegehrte, jedenfalls nicht entschieden und entscheidend, und durch seinen Wohlstand geblendet, nicht mehr erkennen konnte, dass eben dieser Wohlstand die Art und Weise war, wie der Klassenkampf weiterhin geführt wurde, und zwar von oben.
Tagebuch. Neue Kundin heute, sehr speziell, suchte einen Speckstein. Wie sie, wenn ich ihr einen Stein reichte, ihn sehr behutsam und mit beiden Händen entgegennahm und sein Gewicht fast zärtlich von einer Hand in die andere übergab, ohne die nicht tragende Hand dabei vom Stein zu lösen. Und dann, als sie den Blick vom Stein hob, wieviel Prüfendes, Fragendes, Durchdringendes lag da in ihren Augen? Und wie gründlich sie jeden Stein einer zweiten Prüfung unterzog und mit geschlossenen Augen seine Glätte tastete, und wie sie ihn ins Licht hielt, um seine Maserung zu sehen. Und dann, als der richtige gefunden war, ihr blanker Blick, mit dem sie aufschaute, mir in die Augen, und wie ihr Lächeln sich anbahnte, die Augen leuchtend wurden, bis sie, während ihr Blick feucht und glänzend und unverschämt lange auf mir lag, »Der ist es!« sagte. Wie ich mir da wünschte, dieser Blick würde mich meinen, nicht den Stein, da bin ich, glaube ich, rot geworden. Ich vergaß vollkommen, sie mir sonst noch anzuschauen.
Gelesen am 2024-09-06 in der Bremer Buchhandlung Ostertor